Ruhig, Brauner!

Naturgemäß können wir nicht wissen, wie sich die Entwicklung der Sprache in früheren Zeiten angefühlt hat. Aber ich glaube, der Schein trügt nicht, dass eine ähnlich schnelle Anforderungswelle innerhalb nur einer Generation wie derzeit zumindest selten vorgekommen ist.

Blicken wir zurück: Die Abschaffung der zumindest grammatikalisch höflichen Anrede noch für die Eltern („Erlauben Sie mir, zu Bett zu gehen, Mutter?“) oder der dritten Person Singular als Anrede für hierarchisch entfernte Personen („Gehe er aus dem Weg!“) dürfte sich etwas hingezogen haben.

Im Augenblick scheint sich die Entwicklung allerdings zu überstürzen. Einem apokalyptischen Walkürenritt gleich überrollen uns gefühlt täglich neue Forderungen der Sprachhygiene.

Noch wehren wir uns gegen die Vereinnahmung unserer sprachlichen Intimsphäre – namentlich des „Du“ – durch Verkaufskonzerne und ihre willigen Epigonen, die sich in unsere Familien drängen wie ungeliebte Vettern, um deren Wirtschaft es ja denn auch geht: „Kauf mir was ab, du(!) user!“, da kommt es auch schon Schlag auf Schlag hinterher:

Gerade verdauen wir, dass vertraute Begriffe unserer Kindheit, wie Neger und Zigeuner, aus dem Sprachgebrauch und auch aus historischen Texten herausgeschnitten werden wie Kevin Spacey aus Hollywoodfilmen.

Noch sind wir verblüfft, dass das Pronomen „man“ plötzlich unter Geschlechterverdacht gerät und mit dem Substantiv „Mann“ verwechselt werden kann. Und während wir noch verzweifelt nach Formen suchen, wie Frauen in unserer Anrede nicht nur selbstverständlich gemeint, sondern explizit und buchstäblich auch angesprochen werden können, da drängt sich zwischen die Leser und Leserinnen, die LeserInnen und Leser*Innen ein drittes Geschlecht, das im Wortsinn keines sein will und dennoch auf Ansprache eben noch nicht selbstverständlich ein Recht hat.

Da können einem schon mal die Pferde durchgehen. Und so kommt denn auch die Sprachpolizei auf hohem Ross daher, wie an der Uni zu Wien, wo die Vorlesenden nunmehr angehalten werden, die Student (Pause!) Innen in dieser Form tatsächlich anzusprechen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Jeder einzelne Punkt hat seine Berechtigung! Aber ich frage mich, wie viel Sprachkorrektur eine Generation unbeschadet überstehen kann. Oder besser: Wie viel Korrektur eine Sprache unbeschadet generieren kann.

Ich weiß es nicht. Jedenfalls sollten wir versuchen, ruhig zu bleiben und bei der Lieferung diverser Argumente die jeweiligen Lieferanten voneinander entfernt zu halten, wie Wagners Walküren ihre Rosse mit den gefallenen Helden auf dem Rücken. Und wenn die eine singt: „Der Recken Zwist entzweit noch die Rosse!“ ruft die andere ihrem Streithengst zu: „Ruhig, Brauner! Brich nicht den Frieden!“

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